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Ein Gang in die Welt der Vergangenheit
 

von Birgit Arzet   

                                               

Schon als kleines Mädchen ging ich gern auf den Friedhof. Wenn an Allerheiligen unsere Verwandten zum gemeinsamen Gräberbesuch anreisten, stand ich mucksmäuschenstill zwischen den Erwachsenen und versuchte, ebenso andächtig zu sein wie sie, obwohl ich doch den Onkel, der hier begraben lag, gar nicht gekannt hatte. Ich wusste nur, dass er schon in sehr jungen Jahren verunglückt war. Jetzt wollte ich wenigstens teilhaben an den Gefühlen meiner Familienangehörigen. In den Augenblicken, die wir gemeinsam an diesem Grab standen, spürte ich deutlicher als sonst Geborgenheit und Zusammenhalt in der Familie.

Zu meinen Erinnerungen an Allerheiligen gehört auch die Grabpflege. Ein paar Tage zuvor nahm meine Mutter mich mit auf den Friedhof, und nachdem sie die verwelkten Sommerblumen entfernt und neue Veilchen gepflanzt hatte, deckte ich die Erde mit kleinen Tannenzweigen zu.

 

Heute gehe ich am liebsten auf den Friedhof, wenn ich vermute, dass keine anderen Besucher da sind. An einem warmen Sommerabend, wenn eifrig die blumengeschmückten Gräber gegossen werden, da und dort ein Schwätzchen gehalten oder ein schneller Gruß gewechselt wird, kann sich kein Gefühl der Ruhe und Besinnung einstellen. Obwohl auch solche Abende ihren besonderen Reiz haben. Der Dorffriedhof wirkt dann wie eine eigene kleine Gemeinde, eine von dicken Bruchsteinmauern eingerahmte Welt mit ihren Gepflogenheiten und Traditionen. Eine Welt, die wie sonst nirgends Vergangenheit und Gegenwart verbindet. Eine Welt, in der immer Erinnerungen lebendig werden.

 

Die Grabstätte, die meinem Herzen am nächsten liegt, ist die meines Vaters. Aber auch die Gräber meiner Großeltern und der Großeltern meines Mannes kann ich auf unserem Friedhof besuchen. Und je älter ich werde, desto mehr Namen auf den Grabsteinen lassen mich innehalten, weil ich die Verstorbenen gekannt habe. Dann denke ich daran, wie sie gewesen sind und was ich mit ihnen gemeinsam erlebt habe. Ich wandere die Grabwege entlang und es ist, als würde ich nochmal die Zeit der hier Ruhenden durchlaufen. Es gibt noch sehr viele alte Grabsteine, die Inschriften liegen um Jahrzehnte zurück und ich ahne, hier liegen Schicksale begraben aus der Kriegs- und Nachkriegszeit.

Zwischen all den blühenden, liebevoll gepflegten Gräbern entdecke ich auch mal ein verwildertes. Durch sein wucherndes Unkraut und den verwitterten Grabstein wirkt es einsam und verlassen. Ob trotzdem irgendwo in der Ferne jemand an diesen Verstorbenen denkt? Vielleicht hat er Kinder und Enkel, die jetzt in alle Winde zerstreut sind oder anderswo ihre Wurzeln geschlagen haben.

Ich komme an Grabsteinen vorbei, auf denen die Namen einflussreicher Männer stehen, die ich nicht oder kaum gekannt habe. Aber ich weiß, dass sie die Geschichte unseres Dorfes mitgeschrieben haben. Es sind Bürgermeister dabei, Gemeinderäte, Geschäftsleute, Handwerksmeister, Wirtsleute. Oft sind die Nachkommen in ihre Fußstapfen getreten, die Nachnamen sind geblieben, die Generation hat gewechselt.

Und die Namen der Frauen? Häufig steht der Geburtsname auf dem Stein, so dass ich viel erfahren kann über verwandtschaftliche Beziehungen im Dorf. Oft bin ich überrascht, dass die Verstorbene von diesem Hof abstammte oder aus jenem Elternhaus kam. Im Alltag frage ich selten nach den mir nicht bekannten Mädchennamen der verheirateten Frauen. Ab und zu taucht ein Geburtsname auf, der so gar nicht in das Schema unserer Dorfnamen passen will. Die Frau ist wohl als Fremde in unseren kleinen Ort gekommen, hat durch ihren Mann, mit dem sie nun hier liegt, eine neue Heimat gefunden.

Besonders berühren mich Kindergräber. Ich rechne aus, wie alt dieses Kind nur werden durfte. Manchmal gibt es nichts zu rechnen. Manchmal steht nur eine Jahreszahl unter dem Namen. Welches Leid mag sich dahinter verbergen, dass dieses Wesen nicht mal ein bisschen leben durfte?

 

Bevor ich heimgehe, gehe ich noch einmal bei meinem Vater vorbei. Ich schaue auf den Waldrand am Horizont und denke, von hier aus hat er einen schönen Blick. Er, der immer so gern in der Natur und besonders im Wald gewesen ist.

Und ich schaue auf den unberührten Rasen des neuen Friedhofteils und frage mich, in welchem Winkel ich einmal liegen werde. Denn hier möchte ich meine letzte Ruhe finden, weil ich in dieses Dorf gehöre und zu den Menschen, die dann mit mir in dieser anderen Welt sein werden.