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Loslassen
 

von Birgit Arzet

 

Sie hat Angst. Noch nie hat sie einen Menschen sterben sehen. Sie weiß schon lange, dass Vater krank ist. Aber der Abschied ist bisher weit weg gewesen. Doch jetzt – in diesem Augenblick – sagt er es.

„Franziska“, sagt er, „Franziska, ich werde bald gehen!“ Er hustet, verzieht schmerzhaft das Gesicht.

Sie erschrickt. Spürt ein Ziehen im Bauch. Was soll sie entgegnen? Sie weiß, wovon er spricht. Da kann sie nicht fragen: Was meinst du?

Eine Weile sagt sie nichts. Erwidert nur seinen wissenden, traurigen Blick, der unverwandt auf ihr ruht. Wenigstens das kann sie tun, es wäre armselig und feige, den Kopf zu senken. Sie schaut ihren Vater an. Bleich, abgemagert und elend liegt er in den Kissen. Aber seine Augen sind weit offen, sehen etwas Unbekanntes, und eine seltsame Angst liegt in ihnen.

„Meinst du?“, fragt Franziska irgendwann zaghaft und leise.

„Ja.“ Er atmet tief. „Es wird nicht mehr lange dauern!“

Sie streicht ihm zärtlich über die Stirn, schiebt die dünnen, strähnigen Haare zur Seite.

 

Ich hätte fragen sollen, denkt sie. Warum habe ich nicht den Mut gehabt, ihn nach seiner Angst zu fragen? Franziska findet keinen Schlaf. Die Gedanken wuchern in ihrem Kopf wie einige Häuser weiter der Krebs im Körper ihres Vaters.

Diese lähmende Angst vor dem Tod, die keine Worte hochkommen lässt. Schweigen zwischen Menschen, die sich noch so viel sagen möchten. Die Zeit verrinnt und irgendwann verstreicht der letzte Augenblick zum Reden.

Es wird nicht der letzte Augenblick gewesen sein, hofft Franziska.

Sie legt behutsam die Hände auf ihren Bauch, streichelt leicht fordernd über die Haut. Es bewegt sich nichts. Noch nicht.

 

Tage vergehen. Tage im Gleichmaß der Notwendigkeiten. Sie wäscht ihn, gibt ihm zu trinken, schiebt quälend langsam kleine Mengen Suppe zwischen seine Lippen.

Vater ist oft unwillig, mürrisch. Aus eigener Kraft kann er sich kaum mehr rühren. Aber sein geschundener Körper wandert trotzdem. Vom Kopfende zum Fußende. Nach einiger Zeit stoßen seine Füße an die Bettkante, haben keinen Platz mehr, unnatürlich abgewinkelt suchen sie sich ein wenig Freiraum.

„Was tut ihr mit mir? Lasst mich!“

Berührungen empfindet er schmerzhaft. Auch wenn sie ihn so behutsam wie möglich umbetten. Er soll es doch bequem haben.

„Seid doch nicht so grob! Es tut weh!“

Sie legt ein Kissen unter seine Fußgelenke. Seine Fersen haben schon so viel aushalten müssen. Sie verdienen es, ihnen Linderung zu verschaffen.

Die Rollen sind vertauscht, denkt Franziska. Vor Jahrzehnten war ich der hilflose Säugling, den Vater umsorgt hat. Aber ein Säugling weiß nichts von Würde.

Und jetzt – sie steht an seinem Krankenlager und müht sich vergeblich, ihm einen letzten Rest Würde zu lassen, wenn sie ihn säubern muss. Seine Gesichtszüge - beschämt, seine Augenlider – gesenkt, wenn er unbedeckt für einen Moment preisgegeben ist. Sie kann nichts dagegen tun.

 

Das Atmen geht schwerer. Die Worte werden weniger. Seine Sprache leiser. Müdigkeit umklammert ihn.

Der Augenblick kommt nicht wieder.

Franziska erkennt es mit Schrecken. Sie spricht trotzdem zu ihm. Er würde es aufnehmen. Irgendwie.

„Ich hoffe, da wo du hingehst, hast du keine Schmerzen mehr. Keinen Kummer und keine Sorgen. Du wirst Ruhe haben!“

Feuchtigkeit dringt in ihre Augen. Aber sie weint nicht. Er würde es spüren, wenn sie weinte, und dann fiele es ihm schwerer, zu gehen. Sie muss ihn loslassen. Es würde ihm das Sterben leichter machen.

„Ich hab´ dich lieb, Papa! Danke für alles!“, flüstert sie. „Wir werden uns wiedersehen! Irgendwann.“

Sie streichelt seine Wange.

„Auch mit deinem Enkelkind wirst du eines Tages zusammen sein.“

Mit den Händen berührt sie ihre Bauchdecke, gibt Antwort auf die Bewegung im Innern.

 

Stunden der Stille. Schweigen. Gemeinsames, verbindendes, tröstendes Schweigen. Das Krankenzimmer angefüllt mit Zeit. Vaters Zeit. Nichts anderes ist wichtig.

Das Rasseln seines Atems, so regelmäßig wie der Sprung eines Uhrzeigers. Der zu Ende gehende Rhythmus seiner Lebensuhr.

Plötzlich unerwartetes Röcheln. Ein Angst erregendes Schreien aus seinem tiefsten Innern. Aufbäumen.

Franziskas entsetzliche Hilflosigkeit. Nur Berührungen bleiben noch. Händedrücken und beruhigend den Arm um seinen Nacken legen.

Dann nach endlosen, bangen Minuten wieder die ruhige Stille und das gleichmäßige, schwächer werdende Auf und Ab seines Brustkorbs.

Er nimmt sich die wenigen Augenblicke, die Franziska aus dem Zimmer geht.

Vater will allein sein. Sein Sterben gehört nur ihm.

Er hat loslassen können.

 

Sie spürt und sieht es, kaum dass sie das Zimmer wieder betritt. Tief bewegt nimmt sie sein friedvolles Antlitz in sich auf. Sie hat das Gefühl, sie könne ihm nachrufen, ihm Lebewohl sagen, noch ein Stück mitgehen auf seinem Weg. Er ist noch nicht so weit fort.

Ein allerletztes Mal umsorgt sie ihn. Diesen letzten Liebesdienst soll kein Fremder für ihn tun. Behutsam und bedächtig reinigt sie seinen Leib. Sie kleidet ihn in seinen Festtagsanzug, kämmt seine Haare. Seine schmerzfreien Gesichtszüge stützt sie mit einem zusammengerollten Handtuch, das sie ihm unter das Kinn legt. Sie nimmt seine Hände. Große, arbeitsame Hände, die schon lange ihre zupackende Kraft und die Schwielen verloren haben. Diese Hände, die nun reglos von Vergangenem erzählen.

Hastlos richtet Franziska das Zimmer, schmückt es mit Blumen, zündet Kerzen an. Dann setzt sie sich zu ihm.

Der Drang, ihn immer wieder zu berühren. Als könne sie etwas von ihm zurückbehalten. Sein friedlicher, würdevoller Anblick erleichtert ihr den Abschied.

 

Dieser grauenvolle Schmerz, als sie ihn holen. Seinen Anblick im Sarg ertragen – endgültig und unabwendbar. Minuten des Schweigens und Ausharrens. Noch einmal gnädiger Aufschub, bis sein Dasein verschlossen wird. Franziskas lautloses Schreien, während der Sarg aus dem Haus getragen wird. Das Gefühl niederkämpfend, mit ihm gehen zu müssen. Ihn nicht allein fortgehen zu lassen.

In sein Zimmer zurückkommen. Das verwaiste Bett – nutzlos übrig geblieben. Diese unendliche, raumlose Leere. Diese Stille – gestört von ihrem Atem und ihrem Herzschlag. Die Stille, die sie nicht weinen lässt.

Franziska steht da und streicht über das Laken. Unaufhörlich. Gefangen in ihren Gedanken. Spürt innerlich noch seine Wärme.

 

Erst später kommen die Tränen. Mit aller Macht stürzt es auf sie ein. Franziska sitzt im Garten. Sein Haus ist leer. Er kommt nicht wieder zurück. In sein Haus, in dem er geboren und aufgewachsen ist. Seine Arbeit, seine Familie, seine Liebe und Treue, sein Leid und sein Sterben – dieses Haus beherbergt Vaters Leben.

Die Dunkelheit nimmt ihr Schluchzen auf. Ihr aufwühlendes Stöhnen. Ihren Schmerz, den sie endlich mit einem abgrundtiefen Schrei herauslässt.

Sie spürt seine Nähe. Sie ist ganz sicher. Vater ist da. Es gibt ihr Trost.

 

An der Beerdigung weint sie nicht. Dies ist sein letzter Ehrentag. Der letzte von vielen Zeit seines Lebens. Wie immer sind alle Gäste festlich gekleidet. Nicht in lebhaften Farben, das nicht, aber schwarz ist feierlich und würdevoll. Franziska hätte es nicht angemessen empfunden, zu weinen.

Jeder Augenblick der Zeremonie ist ihrem Vater gewidmet, ganz bewusst nimmt sie es wahr. Tränen würden diese Empfindung zudecken. Erst als sie sich am offenen Grab mit einer Rose von ihm verabschiedet, begleitet eine Träne ihren letzten Gruß.

 

Die Welt geht an ihr vorbei. Bis auf Kondolenzkarten, die von außen zu ihr hereindringen und kurzen Trost spenden.

Begegnungen auf der Straße – Scheu, Verlegenheit, ängstliches Abwenden, aus dem Weg gehen. Belangloses Gespräch in der Bäckerei. Nebensächliche, schnelle Sätze verbergen Unsicherheit.

Distanz von Freunden. Besucher, die nicht kommen.

Hunger nach Trost und Mitgefühl.

Franziska will sich mitteilen, über ihre Gefühle sprechen. Die Welt des Sterbens verdrängt alles andere, beansprucht ihr ganzes Denken und Empfinden.

Einsame Stunden. Lange Abende angefüllt mit Gedanken. Zwiesprache mit ihrem Ungeborenen. Warten.

 

Irgendwann später. Regelmäßige Schmerzen. Alles Leben hat Regelmäßigkeit und Rhythmus. Drängende Wehen. Loslassen können – wieder dieses Loslassen!

Franziska hält ihr Neugeborenes im Arm. Sieht staunend in die Gesichtszüge ihres Vaters. Vergangenes wird wieder geboren.

Sie empfindet Ehrfurcht und Wehmut. Beginn des Lebens und Anfang des Sterbens. Ihr Sohn wird nun den langen Weg der tausend kleinen Abschiede gehen.

Abnabeln von der Mutter. Ohne Schutz und Wärme ihres Bauches zurechtkommen. Trennungen – immer wieder, immer neue. Unvermeidbare Trennungen, die sein Dasein begleiten werden. Abschied von der Kindheit, der Schule, dem Elternhaus. Von lieben Menschen, die ihn verlassen. Schmerzvoller Abschied von jenen, die vor ihm in das unbekannte Licht gehen. Und eines Tages sein eigenes, unvermeidliches Hinübergehen.

 

Geburt ist überschäumende Freude. Glückwünsche, Geschenke, Besuche. Spontane, impulsive Gesten. Heraussprudelnde Worte.

„Warum?“, fragt Franziska. Es tut weh.

Geburt und Tod. Anfang und Ende. Freud und Leid. Alles ist miteinander verbunden.

„Warum wird Sterben und Trauer weggeschoben? Totgeschwiegen?“

Es ist die Angst. Franziska weiß es. Erinnert sich an ihre eigene Angst. Die Angst, das Falsche zu sagen.

Doch Mitgefühl braucht keine Worte. Ein Händedruck, eine Umarmung. Da sein und zuhören. Den Schmerz des anderen aushalten. Zeit haben zum Trost geben. Gemeinsame Tränen. Liebevolles Schweigen.